Museum Ostwall präsentiert neue Sammlungspräsentation

 

Museen diskutieren, ob sie nur Kunstwerke aufbewahren oder auch gesellschaftliche Orte sein sollen. Das Museum Ostwall zeigt, dass Kunst und Leben miteinander verbunden sind und eine klare Entscheidung zwischen beiden nicht notwendig ist.

Mit einer Auswahl von Werken der MO_Sammlung vom Expressionismus, über Fluxus und Kunst der 1960er Jahre bis zur Gegenwart zeigt die MO_Sammlungspräsentation “Kunst -> Leben -> Kunst. Das Museum Ostwall gestern, heute, morgen” in drei Kapiteln anschaulich, wie die Gründungsdirektorin Leonie Reygers das Museum als Ort der Menschen in der Region Dortmund dachte und prägte, welche Rolle Autodidakt*innen und Kunstlai*innen dabei spielten, wie sich die Künstler*innen der Fluxus-Bewegung vom Alltagsleben inspirieren ließen und wie gesellschaftliche Debatten die MO_Sammlungspolitik von den 1950er-Jahren bis heute prägen. Zudem ermöglichen drei Exkurse einen Blick hinter die Kulissen und zeigen, wie sich Kunst und Leben im Arbeitsalltag der Mitarbeiter*innen verbinden. Wie arbeitet eine Restauratorin? Wie reist ein Gemälde nach London? Und welche Rolle spielt die Kunstvermittlung im MO?

Im Laufe der Ausstellung wird das Museum Ostwall mit seinem Beirat mit Menschen aus der Dortmunder Stadtgesellschaft ergründen, in welchem Verhältnis die Kunst im MO zum Lebensalltag seiner Besucher*innen steht und mit ihm über Neuankäufe und Präsentationsformen debattieren.

KAPITEL 1: Kunst und die Dinge des Alltags

Als Leonie Reygers das Museum (am) Ostwall Ende der 1940er-Jahre gründete, hatte sie zwei Ziele vor Augen: der von den Nationalsozialisten diffamierten Kunst der klassischen Moderne Anerkennung zu verschaffen und der Kunst zu einem festen Platz im Alltag ihrer Besucher*innen zu verhelfen. Schon früh formulierte sie: “Das Museum sieht seine Hauptaufgabe in der Verbindung von Kunst und Leben. Neben Plastik, Malerei und Graphik unserer Tage wird da[r]um auch die ‚Industrielle Formgebung’ gepflegt und in der Arbeit beim Kleinkinde eingesetzt. Denn die Kunst soll ja nicht nur ästhetische, sondern auch sittliche und soziale Entscheidungen treffen.”

Die Vision von Leonie Reygers: Kunst als Teil des Alltagslebens

Leonie Reygers zeigte im Museum am Ostwall nicht nur Kunst der Moderne, sondern auch Ausstellungen zu Architektur, Design und Kunsthandwerk, die als Vorbild für den eigenen Alltag dienen sollten. Sie baute eine Sammlung zur Industriellen Formgebung auf, die auch Möbel und Geschirr umfasste. Sie richtete einen kostenlosen Lesesaal mit modernem Mobiliar ein, in dem Besucher*innen Kunstzeitschriften und Designkataloge lesen konnten. In den 1960er-Jahren ließen sich Künstler*innen vom Alltag inspirieren und wollten die Kunst verändern, die ihnen zu weit vom Leben entfernt erschien.

Nouveau Réalisme und die Reinigung der Kunst: Die Kunst der 1960er Jahre

Als “Nouveau Réalisme” (= neue Annäherung der Wahrnehmungsfähigkeit an das Reale) bezeichneten die französischen Nouveaux Réalistes 1960 ihre Kunst; und George Maciunas forderte in seinem Fluxus-Manifest 1963: “Reinigt die Welt von toter Kunst […] Fördert lebende Kunst, Anti-Kunst, fördert die NICHT-KUNST-REALITÄT […].” Bei der Verwendung von Alltagsgegenständen/-materialien und der Auseinandersetzung mit Alltagshandlungen ging es ihnen, anders als Reygers, gerade NICHT um die Vermittlung einer richtigen Ästhetik, sondern darum, durch Kunst unseren Blick für das Besondere im vermeintlich banalen Alltag zu schärfen. So lädt das “Three Chair Event” des Fluxus Künstlers George Brecht dazu ein, dem Sitzen besondere Aufmerksamkeit zu widmen, und Gérard Deschamps schafft abstrakte Gemälde aus LKW-Planen, deren Struktur durch die Benutzung im Alltag entstand.

Auch Künstler*innen der Gegenwart widmen sich in verschiedenen Medien Aspekten des Alltäglichen und laden uns ein, gewohnte Sehweisen zu durchbrechen: Timm Ulrichs beispielsweise hat offenbar Mitleid mit einem Stuhl, dessen Aufgabe es ist, den ganzen Tag zu stehen und uns als Sitzende zu tragen, und gestattet dem “Ersten liegenden Stuhl” sich “nach langem Stehen zur Ruhe zu setzen”.

KAPITEL 2: Selber machen: Das eigene Leben mit Mitteln der Kunst betrachten

Leonie Reygers präsentierte 1952 in ihrer Ausstellung “Maler des einfältigen Herzens” Kunst von “naiven” Künstler*innen, die nicht an einer Akademie ausgebildet wurden. Kunst von Autodidakt*innen war nach dem Zweiten Weltkrieg populär und Reygers zeigte in Ausstellungen auch Arbeiten aus den Malschulen der “Bauernmaler” aus Jugoslawien.

Auch war sie Jurorin bei Wettbewerben zur “Bergmännischen Laienkunst”. Regionale Bergbau-Unternehmen förderten die kreative Freizeitbeschäftigung ihrer Bergleute. Reygers sammelte autodidaktische Kunst und kaufte und erhielt Schenkungen, die Alltagsszenen und Träume von Arbeiter*innen zeigten. Zum Beispiel inspirierte Carl Christian Thegen seine Arbeit im Zoo und im Zirkus zu “Wildwest-Szenen”, und Franz Klekawkas “Fronleichnahmsprozession im Sauerland” gewann einen Wettbewerb und wurde dem MO geschenkt.

Aktuell werden Werke von Autodidakt*innen wieder häufiger in Ausstellungen gezeigt, und es wird ausgiebig diskutiert, wer nach welchen Kriterien entscheidet, was als “echte Kunst” und was als “naive”, “Hobby-” oder gar “primitive” Kunst einzuordnen ist. Welche Rolle der eurozentristische Blick in der Kunstgeschichte spielt, wird dabei ebenso kritisch reflektiert wie die Frage, wer es sich leisten kann, das eigene Talent professionell ausbilden zu lassen.

Laien als Künstler*innen

Im Kontext der Fluxus-Bewegung, die Direktor Eugen Thiemann erstmals Ende der 1960er-Jahre im Museum Ostwall präsentierte, wurden ebenfalls “Laien” zu Künstler*innen – in diesem Fall das Publikum. Beispielsweise wurden Besucher*innen während einer Ausstellung des Fluxus-Künstlers Allan Kaprow eingeladen, den perfekten Platz zum Schlafen zu finden. Der Sammler Wolfgang Feelisch platzierte kurzerhand sein Bett in der Dortmunder Fußgängerzone.

Die Fluxus-Bewegung und ihre Präsentation im Museum Ostwall

Die Fluxus-Künstler*innen entwickelten sogenannte Events, Happenings oder Activities, bei denen alltägliche Handlungen oder Alltagsgegenstände in den Fokus rückten, zum Beispiel die Zubereitung eines Salats oder die Betrachtung der eigenen Schuhe. Mit Hilfe von Handlungsanweisungen oder “Scores” können wir nun in der Ausstellung alle zu künstlerisch Handelnden werden und im Rahmen einer Kunstaktion unsere Alltagsgewohnheiten hinterfragen. Auch Spiele, die wir aus dem Alltag kennen, dienten den Fluxus-Künstler*innen als Inspiration. Oftmals laden sie uns dazu ein, “out of the box” zu denken, die gängigen Abläufe – wer gewinnt gegen wen? – zu hinterfragen und selbst neue Regeln für unser alltägliches Miteinander zu entwickeln.

KAPITEL 3: Wie das Leben das Sammeln prägt

Bestimmte Künstler*innen tauchen in Kunstmuseen des 20. und 21. Jahrhunderts immer wieder auf und bilden eine Art “Kanon”. Doch ihre Auswahl hängt oft von Faktoren wie dem Zeitgeist und gesellschaftspolitischen Diskussionen ab, anstatt von objektiven Kriterien. Daher ist die Zusammensetzung einer Museumssammlung nicht immer unabhängig von Moden oder Geschmack.

Leonie Reygers’ Beitrag zur Rehabilitation der klassischen Moderne

Leonie Reygers eröffnete 1949 das Museum am Ostwall, um die Kunst der klassischen Moderne zu rehabilitieren. Ähnliche Bemühungen gab es in der Kasseler documenta von 1955, die die westliche Kunst als Ausdruck von Freiheit feierte und dem Sozialistischen Realismus gegenüberstellte. Reygers erwarb 1956 die expressionistische Sammlung von Karl Gröppel als Fundament der MO Sammlung. Die Ausstellung zeigt u.a. Werke von Paula Modersohn-Becker, Alexej von Jawlensky, Max Beckmann und August Macke.

Reygers sammelte zwar den “klassischen Kanon” der europäischen Moderne, präsentierte jedoch auch Kunst aus anderen Kontinenten, z.B. Specksteinplastiken von kanadischen Inuit, die für den US-amerikanischen und europäischen Markt produziert worden waren. Angekauft wurden diese Werke jedoch nie, dafür galten sie vermutlich als zu “exotisch”. Bis heute ist die MO_Sammlung überwiegend weiß, europäisch/US-amerikanisch und männlich geprägt. Zu den wenigen Werken aus anderen Regionen der Welt zählen einige Malereien aus Haiti, die 1972 nach der Ausstellung “Kunst aus Haiti” als Geschenk der Sammlung Bachmann ins MO kamen.

1949 eröffnete Leonie Reygers das Museum am Ostwall, um die klassische Moderne zu rehabilitieren. Ähnliches passierte bei der Kasseler documenta 1955, die westliche Kunst als Symbol der Freiheit präsentierte und dem Sozialistischen Realismus gegenüberstellte. Reygers erwarb 1956 Gröppels expressionistische Sammlung als Grundlage der MO. Die Ausstellung zeigt u.a. Werke von Modersohn-Becker, Jawlensky, Beckmann und Macke.

Kunst und Leben: Die aktuellen gesellschaftlichen Debatten in der Sammlungsstrategie

Heute, unter der Leitung der Doppelspitze Regina Selter und Florence Thurmes, sind es die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Debatten, die die Weiterentwicklung unserer Sammlungsstrategie beeinflussen. Wir greifen Themen auf, die Menschen in aller Welt betreffen – Ökologie, Genderfragen, soziale Ungleichheit oder Migration – und fokussieren dabei bewusst auf Perspektiven von Künstlerinnen oder außereuropäischen Künstler*innen, die bisher in der Sammlung unterrepräsentiert oder gar nicht vorhanden sind. Mit Hilfe eines neu gegründeten Beirats werden wir den Museumsraum für den Austausch von Impulsen zwischen Kunst und Leben weiter öffnen.

Kunst und (Arbeits-)Alltag im Team des MO

Drei Exkursräume in der Ausstellung ermöglichen einen Blick hinter die Kulissen: Der internationale Leihverkehr ist ein wichtiger Teil der Museumsarbeit, denn für Sonderausstellungen leihen sich Museen untereinander Kunstwerke aus.

Wie eng Forschung und Pflege einer Kunstsammlung miteinander verbunden sind, zeigt der Exkursraum Restaurierung, in dem die Arbeit der beiden Restauratorinnen sichtbar wird: Wie kann man ein Medienkunstwerk, das auf alten Videokassetten basiert, langfristig für die Nachwelt erhalten? Welche Herausforderungen sind mit der Lagerung, Pflege und Ausstellung von Kunstwerken auf und aus Papier verbunden? Und wie genau geht eine Restauratorin vor, wenn tatsächlich einmal ein Werk restauriert werden muss?

“Mit Kunst kenne ich mich nicht aus”, ist ein Satz, den das MO_Team häufig hört. Kein Problem, denn dafür gibt es die MO_Kunstvermittlung. Wie die Angebote für verschiedene Zielgruppen entwickelt werden und was man im MO erleben kann, ist im Exkursraum Kunstvermittlung zu sehen. Und wer gern selbst sofort aktiv werden möchte, ist eingeladen, sich inspirieren zu lassen und selbst Kunstwerke zum Tausch zu erschaffen.


Weitere Infos

“Kunst -> Leben -> Kunst. Das Museum Ostwall gestern, heute, morgen” ab 1. Mai 2023 im Museum Ostwall im Dortmunder U.

Eintritt frei!

Die neue Sammlungspräsentation zeigt anhand von Werken der MO_Sammlung, wie das Museum als Ort der Menschen in Dortmund gedacht und geprägt wurde. Sie zeigt auch die Rolle von Autodidakt*innen und Kunstlai*innen sowie wie sich Fluxus-Künstler*innen vom Alltag inspirieren ließen und wie gesellschaftliche Debatten die MO_Sammlungspolitik von den 1950er-Jahren bis heute prägen (Foto: Jürgen Spiler)